Die Zeit in Kurtuvenai ist erholsam, wenngleich wir beide eine Art Fluchtreflex verspüren. Beim Motorradfahren ist gemeinhin der Weg das Ziel. In diesem Land ist aber eindeutig das Ziel das Ziel. Der Weg ist eher von der grausamen Sorte – geradeaus, geradeaus und nochmal geradeaus – und das bei um die 30°C, ohne Schatten. Denn selbst die Landstraßen zweiter Ordnung verlaufen in Schneisen, in denen deutsche Straßenbauer ohne zu zögern vierspurige Autobahnen gebaut hätten. Hier kann bei Sturm kein Baum über die Straße fallen, er wäre einfach zu weit weg. Aber es weht ja nichtmal…
Dazu das Litauisch, das alle zu Hause eingeplanten Sehenswürdigkeiten in einer Flut für uns unlesbar beschrifteter brauner Schilder untergehen lässt. Wir haben bislang nicht ein Herrenhaus, nicht eine Kirche besichtigt. Sicher lagen sie irgendwo am Weg, aber wir haben sie einfach nicht gefunden. Und wären wir allen Schildern nachgefahren, unsere Tagesetappen hätten sich auf maximal 50 Kilometer reduziert.
Vielleicht wird es ja in Lettland besser. Usmas, unser erstes Ziel dort, liegt an einem ganz tollen Urstromtal, das man laut Reiseführer unbedingt besucht haben muss. Weiter soll es nach Jurmala gehen, dem (!) Badeort Lettlands schlechthin und dann nach Riga, dieser Perle an der Ostsee. Wir reden uns gegenseitig Mut zu, doch weiter zu fahren.
Lettland. Die Grenze ist ein Witz. Irgendwo am Wegesrand steht das Grenzschild, nicht einmal gefolgt von den sonst üblichen Hinweisen auf Geschwindigkeitsregeln. Die eben noch holprige Landstraße wird nach wenigen Kilometern rabenschwarz und glatt, wie ein Kinderpopo. Hier bleiben also die EU-Gelder. Sehr brav. So ist’s richtig! Allerdings ist man noch nicht ganz fertig und daher stehen wir alle ein bis zwei Kilometer an einer Ampel in der glühenden Hitze und warten schwitzenderweise auf etwas anderes als Rot.
Und urplötzlich ist den Letten der Asphalt (oder das Geld) ausgegangen und der Rest der Straße ist geschottert. Na ja, das hatten wir in Litauen auch schon und es war nicht schlimm.
Hier ist es anders. Ganz anders! Schotter ist billiger als Asphalt und so hat man echt dick aufgetragen. Es fährt sich, wie in schlackerigem Schnee, wenn man von einer Spur auf die andere wechselt. Unsere Reifen sinken zentimetertief ein, die Maschinen schlingern beachtlich. Etwas mehr Speed hilft etwas, aber nicht viel. Mehr als 50 km/h traue ich mir nicht zu, denn hier gibt es Kurven, die sogar leicht überhöht sind, Spur- und Querrillen, so dass sich einige Strecken mit etwas weniger Geröll, wie auf einem Waschbrett fahren. Hoffentlich ist alles gut fest geschraubt…
Dazu kommt der Fahrstil der Letten. War er in Litauen rustikal, ist er hier deutlich ruppiger. Man hat weder Zeit, noch Verständnis für andere Verkehrsteilnehmer. Überholt wird immer, wenn es irgendwie geht, egal, ob rechts (das ist hier sogar erlaubt) oder links und beim Einscheren erwartet man, dass der Überholte abbremst. Ansonsten wird er eben von der Fahrbahn gedrängt.
Und genau derartige Zeitgenossen begegnen uns jetzt auf der Schotterstraße, die nach einem Abbiegen von der Haupt- auf eine Nebenstraße tatsächlich mal durch einen Wald mit Schatten verläuft. Wir werden mit Karacho überholt, dass uns die Steine um die Ohren fliegen und die Staubfahne husten lässt. Entgegenkommer düsen an uns vorbei, ebenfalls eine riesige Staubfahne hinter sich herziehend, die uns für lange Sekunden die Sicht raubt. Der Wald ist nicht grün, sondern grau bemehlt. Staub, greller Sonnenschein und Waldschatten im Wechsel, sorgen dafür, dass ich nach ca. 20 Kilometern die Fahrspuren nicht mehr richtig erkennen kann. Vor mir ist alles grau-weiß, die Augen schmerzen. Im Helm höre ich meine bessere Hälfte ab und an fluchen, juchzen oder unanständige Worte aufsagen. Dann weiß ich, dass sie gerade durch die Stelle gefahren ist, in der auch meine Maschine schon ausbrechen wollte. Aber sie bleibt oben! Respekt!
Nach 24 km ist der Spuk endlich vorbei und die Tigerlein haben wieder Asphalt unter den Reifen. Aber wir sehen aus, als hätten wir bei unserer Freundin Grit in der alten Backstube eine Mehlballschlacht veranstaltet. Für manchen Offroader mag das ja zünftig aussehen, wir fühlen uns einfach nur dreckig, ändern die Route, stellen das Navi auf unbefestigte Straßen vermeiden. Der Fluchtreflex ist deutlich spürbar. Sehr deutlich sogar!
Nachmittags fahren wir noch durch Kuldiga, das Verwaltungszentrum des gleichnamigen lettischen Bezirks. Die Stadt hat rund 12.000 Einwohner, ist also schon etwas größer im Vergleich zu dem, was wir sonst am Tage durchfahren haben, und macht einen absolut gemischten Eindruck auf uns: An einigen Stellen ist es recht hübsch und sehenswert, an vielen Stellen aber blättert die Farbe und es sind deutliche Spuren von Verfall zu sehen.
Abends im Zelt ertappe ich mich dabei, den Fahrplan der Fähre von Lipaia nach Travemünde zu studieren. Morgen Riga und dann einfach wieder zurück, ab nach Hause. Wäre das nicht was?
Nein, wäre es nicht. Denn die Fahrt würde ein erhebliches Loch in unsere Urlaubskasse reißen. So lange Fährfahrten kann man nur zeitig im Voraus günstig buchen. Kurzfristig sind sie unerschwinglich. Also reden wir uns die Reise wieder einmal schön: Wenn das Ziel das Ziel ist, brauchen wir Ziele. Riga ist eines. Das wissen wir. Hier waren wir bereits vor drei Jahren und es hatte uns extrem gut gefallen. Und dann buchen wir kurz entschlossen im Radisson Blu, denn mit etwas Glück bekommen wir dort ein Zimmer mit Ausblick über die Daugava hinüber zur Altstadt. Wenn das nicht schön wäre…?